Keine kurzzeitigen Impfgegner - Die Ablehnung des Staates

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Keine kurzzeitigen Impfgegner - Die Ablehnung des Staates

Beitragvon Kaktusblüte am Do 16. Dez 2021, 10:01

Interview mit Ernst Lantermann (Zeit Online/ Reuters) - Auszug

"Sie eint der Hass auf den Staat"

"Wenn man glaubt, auf der richtigen Seite zu stehen und dafür zu kämpfen, treffen sich Körper und Geist in einem Gefühl der Dauererregung", sagt der Sozialpsychologe Ernst Lantermann. © Christian Mang/​Reuters

Am Wochenende demonstrierten Tausende Menschen in Berlin und ganz Deutschland gegen die Corona-Maßnahmen. Neben Rechtsextremen mit Reichsflaggen waren Menschen mit Regenbogenfahnen unterwegs, Impfgegner, Anthroposophen, Junggesellenabschiede und Familien mit Kindern.

ZEIT ONLINE: Herr Lantermann, ist unsere Gesellschaft gespaltener als vor der Corona-Krise?

Lantermann: Die Spaltung ist deutlicher geworden, nimmt aber auch zu. Seit Beginn der Corona-Pandemie nehmen wir sie auch stärker wahr. Auch in früheren Jahren war die Gesellschaft gespalten, vor allem in die Arbeiterklasse und das Kapital. Seitdem aber werden die Gruppen, die sich gegenseitig ausschließen, immer zahlreicher. Und ich beobachte eine starke Tendenz zur Identitätspolitik, also ein starkes Verlangen, die Unterschiede zur anderen Gruppe maximal zu betonen. Dazu kommt, dass sich immer mehr Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen und sich ausgegrenzt fühlen, selbst ermächtigen, indem sie denken: "Jetzt reicht es, jetzt bin ich dran".

ZEIT ONLINE: Um Selbstermächtigung gegen den Staat geht es auch auf den Demonstrationen gegen die Einschränkungen in unserem Alltag, die die Politik während der Pandemie getroffen hat. Zuletzt in Berlin schien der kleinste gemeinsame Nenner der Demonstrantinnen zu sein, dass sie die Corona-Politik der Regierung ablehnen.

Ernst-Dieter Lantermann: Da muss ich Ihnen widersprechen. Das Motiv, das diese verschiedenen Gruppen eint, ist der Hass auf den Staat. Das gilt für die Rechtsradikalen, die auf der Straße waren, für die fanatischen Impfgegner und Tierschützer, die Esoteriker und Fundamentalisten der Ökoszene. Diese Gruppierungen waren es vor Corona schon leid, dass ihre – aus ihrer Sicht – wahren Ideen zum Richtigen in dieser Welt nicht gehört werden. Mit den Beschränkungen während der vergangenen Monate haben sie eine gemeinsame Klammer gefunden. Der Staat ordnet Beschränkungen an, die nicht jeder nachvollziehen kann, und lässt die Menschen damit seine Macht am eigenen Leib erfahren. Dagegen vorzugehen, mag vordergründig eine Spur von Rationalität haben.

ZEIT ONLINE: Zudem stehen sich die beteiligten Gruppen – linke und rechte, Nazis und Anthroposophen – eigentlich selbst ablehnend gegenüber. Wie kommt es, dass sie nun gemeinsam demonstrieren?

Lantermann: In ihrem höchsten Ziel sind sie sich momentan einig – in der absoluten Ablehnung, dem reinen Hass auf die Eliten. Er überstrahlt aktuell alle Differenzen. Der Hintergrund dieser entfesselten Selbstermächtigung ist, dass es nun endlich um die eigenen Ziele gehen kann. Weil die Politik versagt, nehmen diese Gruppierungen die Sache nun selbst in die Hand.

ZEIT ONLINE: Ist diese Ablehnung der Elite denn innerhalb der Gruppen gleich stark ausgeprägt?

Lantermann: Nein. Die Wut und der Hass liegt bei demokratiefeindlichen Rechtsradikalen tiefer als bei Impfgegnern oder Esoterikern. Aber das Grundgefühl ist das gleiche: Sie fühlen sich von der Elite alleingelassen und falsch behandelt.

ZEIT ONLINE: Woher kam diese starke Zustimmung?

Demonstrationen gegen Corona-Politik:
Kein Mindestabstand zu Neonazis
Querdenken-Demo:
Sind das jetzt alles Nazis?

Lantermann: Die Themen, die viele zuvor zutiefst beunruhigt hatten, verschwanden plötzlich. Die Pandemie wischte die Sorge um den Arbeitsplatz, die Globalisierung oder Migranten, die nach Deutschland kommen, weg, weil sie eine konkrete Gefahr für Leib und Seele bedeutete. Es war klar, wer der Gegner ist, und der Staat trat als sorgende Autorität auf, der Maßnahmen ergriff und Beschränkungen erließ. In dieser Zeit war die Zustimmung extrem hoch. All das schwindet aber zunehmend, da Vertrauen in den Staat schwand.

ZEIT ONLINE: Einige Menschen sind also wütend, dass die Maßnahmen funktioniert haben und nichts Schlimmeres passiert ist?

Lantermann: Ja, als die Infektionszahlen sanken, waren die Menschen nicht erleichtert, sondern sie fühlten sich betrogen. Die Forschung spricht hier von Präventions- oder Prophylaxeparadox.

ZEIT ONLINE: Ist das nicht irrational?

Lantermann: Ja. Aber unserem Gehirn und Denken geht es nicht um die Wahrheit. Es geht darum, dass es uns gut geht, und genauso organisieren wir die Welt um uns herum. Angesichts der allgemeinen Undurchschaubarkeit der Welt, sind manche Menschen ganz besonders verunsichert. Für den Menschen aber gibt es nichts Schlimmeres, als permanent an sich selbst zu zweifeln.

ZEIT ONLINE: Geben Sie uns bitte ein Beispiel.

Lantermann: Nehmen wir einen Rassisten. Er stärkt seinen Selbstwert, indem er sich selbst – den guten Menschen – von den anderen, den schlechten Menschen, abgrenzt und sich die Welt um sich herum dann so baut, dass alles zusammenpasst. Zugleich fühlt er sich von der Gesellschaft nicht hinreichend für sein eigenes Wissen belohnt. Auch der Fanatiker ist moralisch selbstgewiss. Er glaubt zu wissen, wo die Feinde sind. Ihn zu verachten, befördert nur seine feindselige Haltung.

ZEIT ONLINE: Und zu den Menschen, die denselben Feind haben, fühlt er sich dann wieder zugehörig?

Lantermann: Ja. Wir sehen das in Facebook-Chats oder Telegram-Gruppen. Die Menschen ziehen ein gutes Gefühl daraus, dass sie sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen, ihre soziale Identität bestätigt bekommen – und nicht zuletzt, weil sie ein geteiltes Gefühl des Hasses spüren. Aus einer Aussage "Merkel kommt aus dem Osten und will Verhältnisse wie im Osten" wird "Diese Frau geht mir schon seit Jahren auf die Nerven und macht Deutschland kaputt" und dann irgendwann "Merkel an den Galgen". Eine solche Kaskade fängt harmlos an und entwickelt sich schnell. Wenn man glaubt, auf der richtigen Seite zu stehen und dafür zu kämpfen, treffen sich Körper und Geist in einem Gefühl der Dauererregung: Hass ist der Rausch des Triumphes. Sie müssen sich nur die Gesichter der Demonstranten einmal anschauen.

Auszug Ende
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