Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Wertekrise?

Moderator: mod

Re: Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Wertekrise?

Beitragvon berlinbear am Mi 28. Dez 2011, 13:43

Ausnahmslos jeder Sitzung des Europäischen Rates (ER) im Juli, September, Oktober und nun im Dezember folgten ein befreiendes Aufatmen und eine teilweise euphorische Kommentierung. Endlich würde der Druck im Kessel der Finanzmärkte sinken, das Tor zu einer europäischen Fiskal- und Stabilitätsunion sei weit geöffnet worden, die Leitplanken für den weiteren Weg dahin stünden fest, die deutsche Stabilitätskultur habe sich dank der Bundeskanzlerin durchgesetzt.
Nächtliche Pressekonferenzen in Brüssel, Parlamentsdebatten und Medienberichte stellen nach den Sitzungen des ER regelmäßig Zeugnisse aus, die Wohlgefallen und Anerkennung auslösen, aber dann nach näherer Prüfung offene Fragen aufwerfen. Die inzwischen serienmäßig stattfindenden Gipfel der Staats- und Regierungschefs folgen einem Muster, nach dem die sowohl von außen adressierte als auch selbst erzeugte Erwartung so groß ist, dass die Zusammenkünfte auf keinen Fall flach verlaufen dürfen – und seien die Ergebnisse auch noch so vorläufig und vage. Jede Sitzung ist zu einem Erfolg verdammt. Also ist sie verdammt noch mal ein Erfolg, selbst wenn der Erfolg der letzten Sitzung schon wieder vergessen oder irrelevant geworden ist.
Ein schlagendes Beispiel für die geringe Haltbarkeit mancher Beschlüsse ist der berüchtigte Hebel, der den temporären Rettungsschirm EFSF auf ein Volumen von einer Billion Euro katapultieren sollte. »Der Hebel« war das politische Wort des Monats Oktober. Der ER beschloss damals einen Hebel, wusste aber nicht, wo der lag, geschweige denn, wie er funktionieren sollte. Und das gilt bis heute, wenn man von einer irrlichternden Versicherungslösung absieht, die Investoren beim Kauf von europäischen Staatsanleihen 20 bis 30 Prozent des Risikos abnehmen soll – so eine Art Teilkaskoversicherung, die aber von selbigen Investoren eher als Witz verstanden wurde.

Peer Steinbrück - Zur Sache
SPD-Mann aus Norddeutschland, Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, Finanzminister der Großen Koalition, ihr Bankenretter und Krisenkämpfer, zuletzt Buchautor und Kommentator: Peer Steinbrück hat sich nicht nur als Parteipolitiker einen Namen gemacht, sondern auch als Experte für klare Worte. Als Sprachrohr des gesunden Menschenverstandes, wo andere im Politsprech erstarren. Einmal im Monat kommentiert er nun in der ZEIT unter dem Titel »Steinbrück – Zur Sache« die ökonomischen Zeitläufte Überhaupt nicht witzig ist, dass der EFSF ohne Hebel »nur« noch über eine Ladenkasse von etwa 250 Milliarden Euro verfügt. Damit soll er aber nicht nur Staatsanleihen von Mitgliedstaaten aufkaufen, die sonst keine Investoren zu einigermaßen vertretbaren Konditionen finden, sondern auch noch labile Banken rekapitalisieren.
Nun sollen die Ergebnisse dieser Ratssitzung keineswegs kleingeredet werden. Die Verschärfung der Haushaltsregeln durch Verankerung einer Schuldenbremse auf einer verfassungsrechtlichen oder vergleichbaren Basis in den nationalen Rechtsordnungen; der automatische Sanktionsmechanismus in Defizitverfahren; der vertraglich verabredete Abbau der Schuldenstände auf höchstens 60 Prozent der Wirtschaftsleistung oder die frühere Inkraftsetzung des permanenten Rettungsschirmes ESM – all das und Weiteres ist richtig und notwendig.
Diese Einigung der EU minus Großbritannien entspricht allerdings weit eher einem »Haushaltspakt« als einer propagandistisch zu dick aufgetragenen »Fiskalunion«. Die müsste insbesondere mit Blick auf die unterschiedlichen nationalen Steuersysteme und die Zahlungsbilanzungleichgewichte innerhalb der EU/Euro-Zone denn doch weitere Elemente enthalten. Der weitaus wichtigere Maßstab zur Beurteilung der Ergebnisse des ER vom 8. und 9. Dezember liegt aber in den Fragen, was denn fehlt und wie schnell sich denn diese Ergebnisse, die noch den Charakter von Absichtserklärungen haben, umsetzen lassen.
Die Defizite springen ins Auge:
– Bis zur nunmehr früher geplanten Inkraftsetzung des ESM im Juli 2012 und bis zur Ratifizierung der Verabredungen in einem separaten völkerrechtlichen Vertrag – statt im Wege einer Änderung der EU-Verträge – durch die nationalen Parlamente fehlt das Konzept für das kurzfristige Krisenmanagement in den nächsten Monaten. Italien und Spanien dürften allein im ersten Quartal 2012 einen Refinanzierungsbedarf von zusammen rund 110 Milliarden Euro haben, Frankreich etwa 63 Milliarden Euro. Das Szenario, dass Frankreich höhere Renditen für seine Anleihen anbieten muss und der Zinsabstand zu Bundesanleihen weiter steigt, ist nicht von der Hand zu weisen. Das Risiko einer Abstufung des Ratings von Frankreich darf man gar nicht berufen.
– Die Banken fahren darin fort, ihre Bilanzen zu verkürzen, womit sie auch ihre Kreditvolumina zurückfahren. Das wird eine ohnehin zu erwartende Eintrübung der Konjunktur verschärfen, die leicht zu einer Rezession eskalieren kann. Die offiziellen Wachstumsprognosen für 2012 entsprechen jedenfalls eher Wunschdenken.
Unwahrhaftigkeit der deutschen Regierungspolitik
– In dieser Perspektive ist der EFSF in seiner Feuerwehrfunktion ohne ausreichende Gerätschaften, und die Politik scheint angesichts der beklemmenden Staatsschuldenkrise vor die Wahl zwischen Pest und Cholera gestellt. Die Frage ist: Was ist Pest, und was ist Cholera – kreditfinanzierte Konjunkturprogramme mit einer weiter steigenden Verschuldung oder eine steigende Arbeitslosigkeit? Eine vernünftige Antwort müsste lauten: keine Steuersenkungen wie von der Bundesregierung geplant, sondern stattdessen die Bereitstellung dieser Mittel für eine eventuell notwendige Kurzarbeiterregelung.
– Die Ausweitung der Handlungsfähigkeit des Internationalen Währungsfonds (IWF) durch zusätzliche bilaterale Kreditzusagen in Höhe von 200 Milliarden Euro könnte als – wenn auch unzureichender – Versuch gewertet werden, dem mageren EFSF einen fetteren IWF an die Seite zustellen. Es gibt aber zwei Probleme.
Die Kredite kommen von den nationalen Notenbanken, also im deutschen Fall von der Bundesbank mit einem Anteil von 42 Milliarden Euro. Wenn sie diese auch nur teilweise verlieren und abschreiben müsste, fiele das auf den Bundeshaushalt zurück. Die 42 Milliarden Euro gehen aber über den bisher vom Bundestag zugestandenen Haftungsrahmen von etwa 210 Milliarden Euro hinaus. Die Bundesregierung müsste deshalb den Bundestag eigentlich um eine Erhöhung des Haftungsrahmens ersuchen.
Zum anderen erwartet die Bundesbank, dass sich nicht nur die Notenbanken aller anderen EU-Staaten, sondern darüber hinaus auch nicht europäische Staaten an der Aufstockung der IWF-Ressourcen beteiligen, damit nicht der Vorwurf erhoben werden kann, dass die Bundesbank auf einem Umweg unter Verletzung ihres Statuts eine Staatsfinanzierung betreibe. Ob diese Erwartung erfüllt wird, steht aber in den Sternen.
– Die Frage einer notwendigen Aufstockung der Rettungsschirme EFSF und ESM ist lediglich bis auf den Gipfel im März 2012 verschoben. Für die Koalitionsregierung steht dann eine Nagelprobe an, weil sie in die Verlegenheit kommen könnte, unter dem Problemdruck und Insistieren anderer Staaten ihre Haltung zur Begrenzung des deutschen Haftungsrahmens zu revidieren. Sie muss gleichzeitig einen Konsens innerhalb der Koalition zur Billigung des ESM herbeiführen. Sollte es gelingen, den ESM verabredungsgemäß bereits im Juli 2012 »scharf« zu schalten, wird dies die Haushaltsplanungen durcheinanderwirbeln und möglicherweise die Neuverschuldung weiter erhöhen. Deutschland müsste seine erste Bareinlage in Höhe von 4,3 Milliarden Euro nämlich ein Jahr früher einzahlen. Wenn dann auch noch die Befürworter von Euro-Bonds in der EU-Kommission und in den politischen Spitzen einiger Mitgliedstaaten ihre Fahnen wieder auf Vollmast hochziehen, wird die zufriedene Abreise vom Gipfel am 8. und 9. Dezember zur Momentaufnahme.
– Was die realwirtschaftliche Lage in den hilfsbedürftigen Staaten betrifft, fehlt jeder Ansatz, ihnen nicht ausschließlich einen selbstmörderischen Konsolidierungskurs abzuverlangen, sondern sie endlich (!) mit einem wirtschaftlichen Aufbauprogramm und wo nötig mit administrativem Know-how zu unterstützen. Anders werden diese Länder die Voraussetzungen für Wachstum, Einnahmen und damit für eine Rückkehr auf die Kapitalmärkte nicht herstellen können.
Wenn denn der ER – entgegen früheren Bekundungen und ordnungspolitischen Überzeugungen – die Gläubigerhaftung weitgehend suspendiert hat (um die privaten Investoren in Staatsanleihen nicht zu verunsichern), dann hätte kompensatorisch eine Umsatzsteuer auf Finanzgeschäfte in der Euro-Zone eingeführt werden müssen. Das wäre eine finanzielle Quelle für Förderprogramme zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit und Infrastrukturförderung in den Ländern der Euro-Zone, die dringend Anschluss finden müssen.
Selbst wenn der separate völkerrechtliche Vertrag der 27 EU-Staaten minus eins im März unterschriftsreif vorliegt und die Billigung durch die nationalen Parlamente im Schnellverfahren gelingen sollte, wird es bis dahin einer »Brückenlösung« für die Ernstfälle in der Euro-Zone dringend bedürfen. Dafür kommt nur eine Institution infrage, wenn der EFSF keine Banklizenz erhalten soll: die EZB.
Darin liegt die eigentliche Unwahrhaftigkeit der deutschen Regierungspolitik, die das Zusammenwirken von Regierung und Opposition in gemeinsamer europäischer Verantwortung belastet: In der innenpolitischen Debatte wird eine Haftungsgemeinschaft gegen alle Fakten geleugnet und vehement abgelehnt. Aber auch nach der Weihnachtszeit wird die Bundesregierung täglich eine Kerze ins Fenster stellen, in der Hoffnung, dass sich die EZB in ihrer hochbesungenen Unabhängigkeit doch bitte darin ergeben zeigen möge, weiterhin Staatsanleihen aufzukaufen. Heimlich wird darauf gesetzt, dass die EZB die Stabilisierung der Euro-Zone mindestens bis zur Gültigkeit eines neuen europäischen Vertragswerkes gewährleistet, der aus innenpolitischen – besser innerkoalitionären – Gründen kein Tribut gezollt werden darf.
Auf diesen wackeligen Beinen geht’s in 2012
berlinbear
 
Beiträge: 38
Registriert: Mo 20. Okt 2008, 09:21
Wohnort: Berlin

Re: Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Wertekrise?

Beitragvon sachsenjäger am Do 29. Dez 2011, 12:24

Wirtschaftsweise hält Euro-Ende 2012 für möglich

Drastische Warnung in der Schuldenkrise!

Das Mitglied im Sachverständigenrat, Beatrice Weder die Mauro, hält angesichts der immer größeren Spannungen im Euroraum ein Auseinanderbrechen der Währungszone im kommenden Jahr nicht mehr für unmöglich. Im Interview mit der "Bild"-Zeitung erklärte Weder di Mauro auf die Frage, ob der Euro 2012 auseinanderbreche: "Das wäre für alle Beteiligten schlimm - aber nicht mehr ganz auszuschließen."

Bisherige Schritte in der Eurokrise erfolglos Die Politik versuche seit fast zwei Jahren, die Krise einzudämmen und "Brandschutzmauern" zu ziehen. Allerdings reichten diese Mauern bisher nicht aus, sagte Weder di Mauro. In einem solchen Fall seien die Kosten unkalkulierbar.

Zugleich müssten die Schuldenquoten "mit einem Schuldentilgungspakt in 20 Jahren überall unter 60 Prozent fallen". Außerdem müssten die Zinsen kurzfristig durch gegenseitige Garantien auf ein realistisches Niveau gedrückt werden.

Die Voraussetzung dafür sei aber, dass die Regierungschefs die Krise schnell in den Griff bekommen. "Sollte die Krise aber zu Nullwachstum im Welthandel führen, ist auch ein Schrumpfen der Wirtschaft um 0,5 Prozent möglich", sagte Weder die Mauro. Dann wären auch Arbeitsplätze in Deutschland in Gefahr.

Anfang November hatte der Sachverständigenrat in seiner Hauptprognose für 2012 noch ein Wirtschaftswachstum in Deutschland von 0,9 Prozent vorausgesagt.(Quelle: dpa)
sachsenjäger
 
Beiträge: 92
Registriert: Do 2. Apr 2009, 13:03
Wohnort: Leipzig

Vorherige

Zurück zu Aktuelle Themen

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 2 Gäste

cron